Doppelte Wesentlichkeitsanalyse im Unternehmenskontext
Im Januar 2023 trat die EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), in Kraft. Ab 2024 sind Unternehmen in der EU verpflichtet, detailliert zu nichtfinanziellen Informationen in den Bereichen Umwelt, Soziales und Governance (ESG) zu berichten. Die European Sustainability Reporting Standards (ESRS) dienen dabei als Leitlinie für die Berichterstattung. Eine der bedeutendsten Neuerungen der CSRD ist die Einführung des Konzepts der „Double Materiality“ – der „Doppelten Wesentlichkeit“.
Das Prinzip der Doppelten Wesentlichkeit
Das Prinzip der Doppelten Wesentlichkeit stellt ein neues Denken in der Berichterstattungspraxis dar, das Unternehmen dazu anhält, Nachhaltigkeitsthemen immer aus zwei Perspektiven zu betrachten. Die erste Perspektive ist die Inside-Out Perspektive, auch als Impact Materiality bekannt, bei der es darum geht, die positiven und negativen Auswirkungen des unternehmerischen Handelns auf Umwelt und Gesellschaft zu ermitteln. Die zweite Perspektive, die Outside-In Perspektive oder Financial Materiality, fokussiert sich auf die Auswirkungen von Nachhaltigkeitsthemen auf die finanzielle Lage und die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens.
Ein Thema gilt als wesentlich, wenn entweder Risiken und Chancen für den Geschäftserfolg bestehen (Outside-In Perspektive) oder wenn es signifikante Auswirkungen auf Umwelt und Menschen gibt (Inside-Out Perspektive). Berichterstattungspflichtig ist ein Thema, wenn es auch nur aus einer dieser Perspektiven als wesentlich eingestuft wird. Damit fordert die CSRD von Unternehmen, die Wesentlichkeit immer in beiden Dimensionen zu bewerten und die entsprechenden themenspezifischen Inhalte gemäß den ESRS-Standards darzustellen.
Anforderungen und Voraussetzungen für Unternehmen
Unternehmen, die der CSRD unterliegen, müssen bestimmte Anforderungen und Voraussetzungen erfüllen, um die doppelte Wesentlichkeitsanalyse durchzuführen:
- Integration in das Managementsystem: Die Wesentlichkeitsanalyse sollte in das bestehende Managementsystem integriert werden, um sicherzustellen, dass Nachhaltigkeitsthemen dauerhaft berücksichtigt werden.
- Stakeholdereinbindung: Unternehmen sind verpflichtet, relevante Stakeholder in den Prozess der Wesentlichkeitsanalyse einzubeziehen. Dies kann durch Interviews, Umfragen oder Konsultationen geschehen, um ein umfassendes Bild der Erwartungen und Anforderungen zu erhalten.
- Ressourcenbereitstellung: Unternehmen müssen ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen bereitstellen, um die Analyse durchzuführen. Dies schließt die Einbindung von Fachabteilungen und externen Experten ein.
- Dokumentation und Transparenz: Die Ergebnisse der Wesentlichkeitsanalyse sowie die angewandte Methodik müssen dokumentiert und transparent kommuniziert werden. Dies ist wichtig, um die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung zu gewährleisten.
- Regelmäßige Aktualisierung: Die Wesentlichkeitsanalyse ist kein einmaliger Prozess, sondern muss regelmäßig überprüft und aktualisiert werden, um sicherzustellen, dass alle relevanten Themen berücksichtigt werden.
Gesetzliche Anforderungen und betroffene Unternehmen
Die CSRD bringt klare gesetzliche Anforderungen für Unternehmen mit sich, die der Richtlinie unterliegen. Betroffen sind:
- Große Unternehmen: Unternehmen, die mindestens zwei der folgenden drei Kriterien erfüllen, sind berichtspflichtig: mehr als 250 Mitarbeiter, eine Bilanzsumme von mehr als 20 Millionen Euro oder ein Nettoumsatz von mehr als 40 Millionen Euro.
- Börsennotierte Unternehmen: Alle Unternehmen, die an einem regulierten Markt innerhalb der EU börsennotiert sind, müssen die Anforderungen der CSRD erfüllen, einschließlich kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU), die börsennotiert sind, mit Ausnahme von Kleinstunternehmen.
- Unternehmen von öffentlichem Interesse: Dies umfasst Unternehmen wie Banken, Versicherungen und andere Einrichtungen, die aufgrund ihrer Tätigkeiten von besonderem öffentlichem Interesse sind.
- Lieferketten: Auch Unternehmen, die indirekt in den Lieferketten großer berichtspflichtiger Unternehmen agieren, könnten von den Anforderungen betroffen sein, da sie zur Bereitstellung relevanter Daten verpflichtet werden könnten.
Die betroffenen Unternehmen müssen die Anforderungen der CSRD erfüllen und eine Wesentlichkeitsanalyse durchführen, um die wesentlichen Themen im Bereich ESG zu identifizieren und transparent darüber zu berichten. Dies schließt die Berichterstattung über die finanziellen und nichtfinanziellen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeiten sowie die Risiken und Chancen im Hinblick auf Nachhaltigkeit ein.
Exemplarische Anwendung der Doppelten Wesentlichkeit
Ein anschauliches Beispiel für die Anwendung der Doppelten Wesentlichkeit ist ein Unternehmen der Öl- und Gasbranche. Die Kerntätigkeit des Unternehmens – die Förderung und der Verkauf fossiler Brennstoffe – hat erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt und trägt zum Klimawandel bei. Aus der finanziellen Perspektive (Outside-In) könnte der Klimawandel das Geschäftsmodell erheblich beeinflussen, indem regulatorische Auflagen, Strafen oder gestiegene Produktionskosten finanzielle Risiken für das Unternehmen darstellen. Aus der Impact-Perspektive (Inside-Out) kann die Geschäftstätigkeit des Unternehmens erhebliche negative Effekte auf die Umwelt und die lokale Bevölkerung haben, wie etwa Treibhausgasemissionen, Biodiversitätsverlust und die Vertreibung von Gemeinschaften.
Ein weiteres Beispiel ist ein Modeunternehmen, das Textilien produziert und weltweit vertreibt. Aus der Outside-In Perspektive könnten steigende Anforderungen an Umweltstandards in den Produktionsländern und ein wachsendes Bewusstsein der Konsumenten für nachhaltige Produkte erhebliche Auswirkungen auf das Geschäftsmodell haben. Die steigenden Kosten für nachhaltige Materialien oder die Gefahr eines Reputationsverlustes durch negative Berichterstattung stellen finanzielle Risiken dar. Aus der Inside-Out Perspektive wirken sich Produktionsprozesse negativ auf die Umwelt aus, z.B. durch Wasserverbrauch, Einsatz von Chemikalien und schlechte Arbeitsbedingungen in der Lieferkette. Auch hier müssen beide Perspektiven berücksichtigt werden, um wesentliche Themen zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
Durchführung der Wesentlichkeitsanalyse
Um zu ermitteln, welche Themen aus Sicht eines Unternehmens wesentlich sind, ist eine systematische Wesentlichkeitsanalyse erforderlich. Die Unternehmen müssen hierzu eine strukturierte Analyse durchführen, welche sowohl interne als auch externe Stakeholder einbezieht. Dabei beginnt der Prozess mit der Frage, welche Nachhaltigkeitsaspekte potenziell wesentlich sind und welche Themen tiefer analysiert werden sollten. Die ESRS-Standards bilden hier die Grundlage zur Identifizierung potenzieller Themen, ergänzt durch branchenspezifische Standards und sektorübergreifende Rahmenwerke.
Neben der eigenen Wertschöpfungskette sollten Unternehmen auch die Lieferkette sowie die Nutzungsphase ihrer Produkte in die Analyse einbeziehen. Zusätzlich sollten Erkenntnisse aus Risiko- und Impactanalysen sowie aus der systematischen Einbindung von Stakeholdern einfließen. Stakeholder wie Zulieferer, Geschäftspartner, Mitarbeiter oder Anwohner sollten durch Umfragen, Interviews oder ähnliche Methoden konsultiert werden. Die dabei gewonnenen Informationen tragen zur Priorisierung der Themen im Sinne der Doppelten Wesentlichkeit bei.
Möglichkeiten zur Unterstützung der Wesentlichkeitsanalyse
Um Unternehmen bei der Durchführung der Wesentlichkeitsanalyse zu unterstützen, stehen verschiedene Vorlagen und Tools zur Verfügung:
- Vorlage für Wesentlichkeitsmatrix: Eine solche Matrix hilft Unternehmen, die wesentlichen Themen aus der Inside-Out- und Outside-In-Perspektive grafisch darzustellen. Dies erleichtert die Priorisierung und Visualisierung der wichtigsten Themen.
- Stakeholder-Mapping-Vorlage: Diese Vorlage unterstützt Unternehmen bei der Identifikation und Priorisierung ihrer Stakeholder. Sie enthält Kriterien, anhand derer Stakeholder nach ihrem Einfluss und Interesse am Unternehmen eingestuft werden können.
- Checkliste für die Durchführung einer Wesentlichkeitsanalyse: Diese Checkliste hilft sicherzustellen, dass alle notwendigen Schritte der Wesentlichkeitsanalyse ordnungsgemäß durchgeführt werden. Sie umfasst Punkte wie die Identifizierung relevanter Nachhaltigkeitsthemen, die Einbindung von Stakeholdern und die Bewertung der Wesentlichkeit.
- Excel-Tool für die Bewertung der Wesentlichkeit: Mit diesem Tool können Themen anhand verschiedener Kriterien systematisch bewertet und priorisiert werden, um fundierte Entscheidungen zu treffen.
- Leitfaden für die Anwendung der ESRS-Standards: Ein Leitfaden, der Unternehmen durch die Anforderungen der ESRS führt und praktische Vorlagen für die Berichterstattung zu den wesentlichen Themen bereitstellt.
Diese Vorlagen und Tools helfen Unternehmen, den Prozess der Wesentlichkeitsanalyse strukturiert und effizient zu gestalten. Sie stellen sicher, dass keine wichtigen Aspekte übersehen werden und unterstützen dabei, die Anforderungen der CSRD umfassend zu erfüllen.
Nutzen der Wesentlichkeitsanalyse
Die Durchführung einer Wesentlichkeitsanalyse bietet mehrere Vorteile für Unternehmen. Sie ermöglicht es, strategisch relevante Nachhaltigkeitsthemen zu identifizieren und die Ressourcen gezielt einzusetzen. Dadurch können Unternehmen ihre Nachhaltigkeitsleistung systematisch verbessern und Risiken minimieren. Gleichzeitig kann die Einbindung der Stakeholder die Transparenz erhöhen, Erwartungen besser erfüllen und das Vertrauen in das Unternehmen stärken.
Darüber hinaus hilft die Wesentlichkeitsanalyse, die Transparenz im Berichterstattungsprozess zu steigern, da die Methodik der Analyse offengelegt werden muss. Die CSRD fordert nicht nur die Ermittlung der wesentlichen Themen, sondern auch eine kontinuierliche Überprüfung und Anpassung der Wesentlichkeit im Zeitablauf. Dies stellt sicher, dass die Berichterstattung immer aktuell, relevant und aussagekräftig bleibt.
Herausforderungen und Empfehlungen
Die Durchführung einer doppelten Wesentlichkeitsanalyse ist anspruchsvoll und erfordert eine umfassende Vorbereitung. Viele Unternehmen unterschätzen die Komplexität und den Ressourcenbedarf dieses Prozesses. Es ist wichtig, die Perspektiven der Doppelten Wesentlichkeit umfassend zu verstehen und die gesamte Wertschöpfungskette zu beleuchten. Fundierte Ergebnisse sind nur möglich, wenn verschiedenste Datenquellen genutzt und die Stakeholder aktiv einbezogen werden.
Trotz der Herausforderungen lohnt sich die Mühe. Der Prozess bietet wertvolle Einblicke in wesentliche Auswirkungen, Risiken und Chancen, die zur Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie beitragen. Die Wesentlichkeitsanalyse kann Ausgangspunkt für einen regelmäßigen Dialog mit den Stakeholdern sein und die Basis für ein effektives Nachhaltigkeitsmanagement schaffen.
Die Doppelte Wesentlichkeitsanalyse stellt eine zentrale Komponente der neuen Anforderungen der CSRD dar. Sie fordert Unternehmen dazu auf, sowohl die Auswirkungen ihrer Tätigkeiten auf Umwelt und Gesellschaft als auch die Auswirkungen von Nachhaltigkeitsthemen auf ihr Geschäft zu analysieren. Dies ermöglicht eine umfassende und fundierte Berichterstattung, die für Transparenz und Glaubwürdigkeit sorgt. Unternehmen, die diesen Prozess ernsthaft umsetzen, profitieren nicht nur durch die Einhaltung regulatorischer Vorgaben, sondern auch durch eine verbesserte Nachhaltigkeitsstrategie und eine stärkere Bindung ihrer Stakeholder. Wir begleiten Sie gerne bei diesem Prozess.